Freigemessene Abfälle

Die Deponierung von AKW-Bauschutt sorgt regelmäßig für Unruhe in den betroffenen Kommunen. In Zukunft wird aber noch viel mehr Material zur Entsorgung anfallen. Denn die Stilllegung und der Rückbau der Kernkraftwerke sind in vollem Gange.

Ungeliebter Bauschutt


In der Politik braucht es oft kleinere oder größere Katastrophen, um politische Entscheidungen durchsetzen können. Eine dieser Katastrophen war die Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011. Schon gut sechs Wochen später beschloss die Bundesregierung, aus der Nutzung der Atomenergie auszusteigen.

Seither steht fest, dass bis 2022 alle Kernkraftwerke im Land abgeschaltet werden sollen. Schon heute sind nur noch acht der 33 Leistungsreaktoren am Netz. Die restlichen Blöcke befinden sich bereits in der Stilllegungs- oder Rückbauphase.

Für die Entsorgungswirtschaft gibt es damit in der Zukunft einiges zu tun. Zum einen, was den Rückbau betrifft und zum anderen, wenn es um die Deponierung freigemessener Abfälle geht. Im Durchschnitt fallen beim Rückbau eines Kernkraftwerks schätzungsweise 300.000 bis 400.000 Tonnen Bauschutt an. Davon sind 100.000 bis 150.000 Tonnen gering radioaktiv belastet. Über alle Atommeiler kommen somit in den kommenden Jahrzehnten bis zu 5 Millionen Tonnen Bauschutt auf die Entsorgungswirtschaft zu.

Langwieriger Rückbauprozess

Bevor aber ein Abbruchunternehmen die Zerkleinerungsmaschinen anschalten kann, geht erst einmal einige Zeit ins Land. „Wird ein Reaktor stillgelegt, passiert in den ersten Jahren nicht viel. Zunächst klingen über drei bis vier Jahre die Brennelemente ab und es werden Vorbereitungen getroffen“, sagt Professor Sascha Gentes, Leiter des Fachgebiets Rückbau konventioneller und kerntechnischer Bauwerke am Karlsruher Institut für Technologie. Hier könne es durch das Auftreten von vorher nicht bekannten konventioneller Schadstoffe schon zu Verzögerungen kommen.

Danach folgt der sogenannte nukleare Rückbau. Die Brennelemente werden entfernt und das komplette Innenleben des Kraftwerkes wird zerlegt und wenn möglich dekontaminiert. Das betrifft beispielsweise Rohrleitungen, Generatoren und Turbinen. „Die aktivierten Bauteile wie Reaktordruckgefäß müssen fernhantiert zerlegt werden und warten dann über Jahre hinweg auf die Endlagerung“, erklärt Gentes. Zudem müsse die Gebäudestruktur dekontaminiert werden, das heißt, die Oberflächen werden abgefräst. Insgesamt dauert der Prozess mehrere Jahre. Was verwertet werden kann, wird verwertet, etwa in der Stahlindustrie.

Der dritte Schritt geht anschließend innerhalb von zwei bis drei Jahren über die Bühne und ist für die Entsorgungsbranche der interessante. Denn der Rückbau der Betonhüllen wird ausgeschrieben. „Hier kommen dieselben Geräte wie beim Abbruch konventioneller Kraftwerke zum Einsatz, so unter anderem Bagger, Kräne, ferngesteuerte Abbruchgeräte oder auch Fräsen“, erläutert Armin Kraft, Geschäftsführer der TVF Altwert, einem zu Alba gehörenden Sanierungsdienstleister.

Der Bauschutt, der durch den Rückbau entsteht, wird schließlich mittels Freimessmethode auf Strahlenbelastung überprüft. Wird dabei ein Wert unter 10 Mikrosievert festgestellt, wird der Bauschutt von der jeweiligen Atomaufsichtsbehörde des Bundeslandes freigegeben und kann als sogenannter freigemessener Abfall deponiert werden. Das erfolgt in Big Bags. Weiteres Material wird verwertet. „Bei einem solchen Rückbau fallen auch vermarktungsfähige Produkte an, so zum Beispiel Schrotte aller Art“, so TVF Altwert-Geschäftsführer Kraft.


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[su_spoiler title=“Freimess-Methode nach dem Mikrosievert-Konzept“] Das 10-Mikrosievert-Konzept wurde von der Internationalen Atomenergie-Agentur entwickelt und in europäisches und nationales Recht übernommen. Es besagt, dass Rückstände, die beim Rückbau/Abriss einer kerntechnischen Anlage anfallen, aus der strahlenschutzrechtlichen Überwachung entlassen werden können. Voraussetzung ist, dass die Strahlenexpositionen für Einzelpersonen der Bevölkerung pro Jahr nicht höher liegt als 10 Mikrosievert.

Die natürliche Strahlenbelastung in Deutschland beträgt durchschnittlich 2.100 Mikrosievert pro Jahr – also 210-fach höher. Zum Vergleich: Bei einer Röntgenaufnahme ist die betroffene Person circa 100 Mikrosievert bis 1.000 Mikrosievert Strahlung ausgesetzt, bei einem Nordatlantikflug ergeben sich etwa 100 Mikrosievert.
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Die Messmethode nach dem 10-Mikrosievert-Konzept ist allerdings nicht unumstritten. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) sowie einige Mediziner lehnen die Methode ab. Beide Interessengruppen betonen: Die Gesundheitsgefahren würden unterschätzt und Fehler bei der Abschätzung seien nicht auszuschließen. Der BBU hatte erst vor einigen Monaten dafür plädiert, die bisherigen Freigabegenehmigungen aufzuheben.

Nach Angaben des BBU wurde freigemessener Bauschutt bislang an 19 Standorten in sieben Bundesländern eingebaut. Die Mengen schwanken dabei zwischen 50 und 21.000 Tonnen. Der Widerstand vor Ort verläuft dabei mit unterschiedlicher Lautstärke ab. Relativ deutlich zu vernehmen war die Diskussion in Baden-Württemberg, wo freigemessene Abfälle aus den Atomkraftwerken Obrigheim und Neckarwestheim anfielen. Dort lehnten der Landkreis Ludwigsburg und der Neckar-Odenwald-Kreis den Einbau des Materials ab, mussten sich aber schließlich der Anordnung des baden-württembergischen Umweltministeriums beugen.

Das Ministerium in Stuttgart ist von der Unbedenklichkeit der Abfälle grundsätzlich überzeugt. Es stützt seine Einschätzung auf eine Studie, die das Öko-Institut 2016 im Auftrag des Ministeriums durchgeführt hat. Demnach liegen die ermittelten Strahlenwerte – gemessen wurde auf einer Deponie bei Karlsruhe – bei höchstens 4,6 Mikrosievert pro Person und Jahr.

„Großes Marktpotenzial“

Aller Voraussicht nach werden sich die Diskussionen, wie sie in Baden-Württemberg zu vernehmen waren, in den kommenden Jahren in vielen anderen Regionen wiederholen. Denn der Großteil der Kernkraftwerke in Deutschland befindet sich aktuell in der Stilllegungs- oder Rückbauphase. Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis weitere freigemessene Abfälle zur Deponierung anstehen. Fortschritte macht unter anderem der Rückbau im niedersächsischen Stade und im ostwestfälischen Würgassen bei Beverungen, aber auch in anderen Anlagen ist der Rückbau bereit im Gange:

  • Für den gering belasteten Bauschutt aus Stade strebt der Betreiber Preussen Elektra eine „standortnahe Lösung“ an. Weil der Landkreis über keine geeignete Deponie verfügt, ging der Schutt bislang auf die annahmepflichtige Deponie Hillern im nah gelegenen Heidekreis. Als diese die Annahme verweigerte, musste der Betreiber auf Deponien in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und 2016 sogar bis nach Sachsen ausweichen.
  • In Würgassen wird der Abbruch nicht vor 2025 stattfinden, weil der aus dem Rückbau entstandene schwach- und mittelradioaktive Abfall noch nicht an das Endlager Konrad abgegeben werden kann.
  • Für den Atommeiler Brunsbüttel in Schleswig-Holstein hat der Betreiber im Juni 2017 das Ende des nuklearen Rückbaus vermeldet.
  • Mit dem nuklearen Rückbau von Block 1 des Kernkraftwerks Isar wurde im Frühjahr 2017 begonnen.
  • Im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld im unterfränkischen Landkreis Schweinfurt und im Kernkraftwerk Unterweser in Niedersachsen soll der nukleare Rückbau demnächst starten.
  • Das ebenfalls in Schleswig-Holstein gelegene Kernkraftwerk Krümmel steht Ende 2018 an.
  • Im Kernkraftwerk Obrigheim in Baden-Württemberg sind die nuklearen Rückbauarbeiten bereits in vollem Gange. Sie sollen 2025 abgeschlossen sein, wie der Betreiber EnBW mitteilt.
  • Die Kernkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg bei Heilbronn, die ebenfalls zu EnBW gehören, werden seit Beginn des Jahres beziehungsweise Frühjahr 2017 zurückgebaut.
  • Eine Autostunde nördlich von Philippsburg hat zudem RWE Power, Betreiber des Kernkraftwerks Biblis, die Rückbauphase eingeläutet.

Nach Schätzungen belaufen sich die Gesamtkosten für den Rückbau aller deutschen Reaktoren auf rund 20 Milliarden Euro, wobei die Spanne pro Reaktor zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Euro liegt. Andere Studien gehen von mindestens 33 Milliarden Euro aus. Davon können auch die Abbruchunternehmen ein Stück abbekommen. „Grundsätzlich sehen wir im Bereich des konventionellen Rückbaus durchaus großes Marktpotenzial“, sagt TVF Altwert-Geschäftsführer Kraft.


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