Interview

Zwei Jahre haben die Behörden stillgehalten, doch nun ist die Schonzeit für Unternehmen abgelaufen: Die neuen Regelungen des Mess- und Eichrechts lassen sich nicht länger ignorieren, stellt die Kölner Rechtsanwältin Dr. Nadja Wüstemann im Interview mit 320° klar. Sie empfiehlt Recyclern dringend, ihre Praxis umzustellen.

„Wir raten dringend zur Umstellung“


Die Mess- und Eichverordnung ist bereits seit 2015 in Kraft. Für die Recyclingwirtschaft ist die Verordnung vor allem im Hinblick auf Gewichtsabzüge für Schmutz und Feuchtigkeit aber auch bezüglich des Verbots gespeicherter Tara-Gewichtswerte von Bedeutung. Beide Aspekte bereiten in der Praxis Probleme. Mit der anstehenden Novelle der Verordnung hätte der Gesetzgeber die Regelungen korrigieren können, meint die Kölner Rechtsanwältin Dr. Nadja Wüstemann. Doch der Gesetzgeber lasse die Chance verstreichen. Dr. Nadja Wüstemann von der Kanzlei Pauly Rechtsanwälte ist auf das Vertrags- und Haftungsrecht in der Recyclingbranche spezialisiert.

Frau Dr. Wüstemann, die Mess- und Eichverordnung soll novelliert werden, ein entsprechender Referentenentwurf liegt bereits vor. Warum ist die Novelle überhaupt nötig?

Pauly Rechtsanwälte
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Laut dem Gesetzgeber sollen mit der Novelle „einige redaktionelle Fehler“ und „kleinere Probleme für Wirtschaft und Vollzugsbehörden“ behoben werden. Das ist wohl zutreffend, denn die wirklich großen Probleme für die betroffenen Wirtschaftsbeteiligen geht der Gesetzgeber mit der Novelle nicht an. Sicherlich sind auch kleinere Korrekturen, die den gesetzgeberischen Rahmen an die Praxis anpassen, nicht nutzlos oder unnötig. Es stellt sich aber dennoch die Frage, ob der Gesetzgeber hier nicht mit einer umfassenderen Korrektur auf die massiven Umsetzungsprobleme im unternehmerischen Geschäftsverkehr hätte reagieren müssen.

Worin liegen die Umsetzungsprobleme?

Der Gesetzgeber verbietet mit dem Mess- und Eichrecht die Verwendung von Messwerten, die nicht mit einem geeichten Messgerät ermittelt wurden. Damit hat er vor allem den Schutz der jeweils „schwächeren“ Vertragspartei im Auge, die mangels Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeit beim Messvorgang ggf. benachteiligt werden könnte. Dies trifft vielleicht auf den Verbraucherbereich zu; im unternehmerischen Geschäftsverkehr haben sich aber in manchen Branchen über Jahre hinweg bestimmte Gepflogenheiten entwickelt, die oftmals schlichtweg der notwendigen Effizienz und Schnelligkeit der Abwicklung bestimmter Geschäftsvorgänge geschuldet sind und von den am jeweiligen Geschäft beteiligten Unternehmern beidseitig gewollt sind.

Das trifft auch auf die Recyclingbranche zu?

Ja, in jedem Fall. In der Schrott- und Recyclingbranche betrifft es beispielsweise die branchenüblichen pauschalen Gewichtsabzüge für Schmutz und Feuchtigkeit. Das Mess- und Eichrecht regelt, dass die Schmutz- und Feuchtigkeitsabzüge nicht mehr in geschätzten Gewichtseinheiten zur Abrechnung gebracht werden dürfen. Folglich müssen sich die Unternehmen umstellen: Zulässig sind z.B. prozentuale oder pauschale Abzüge, diese aber nur vom Preis, ohne einen Gewichtsbezug.

Inwiefern ist das ein Problem?

Nehmen Sie das Beispiel, dass in einer Abrechnung ein ordnungsgemäß verwogenes Gewicht von 200 Tonnen auftaucht. Bei einem Preis von 1,00 EUR/t beläuft sich der abzurechnende Betrag damit grundsätzlich auf 200,00 EUR. Früher wurden dann von geschulten Mitarbeitern ggf. jeweils pauschale Gewichtsabzüge für Schmutz und/oder Feuchtigkeit vorgenommen. Bei einem so geschätzten Abzug von 5 Tonnen wurde das Gewicht entsprechend korrigiert. Zur Abrechnungen kamen dann in unserem Beispielsfall 195 Tonnen zu einem Preis von insgesamt 195,00 EUR.

Und das ist mit der neuen Verordnung nicht mehr möglich?

Nein, heute müsste der Abzug entweder prozentual ausgedrückt werden (hier also 2,5 Prozent) oder sofort als pauschaler Preisabzug (hier also i.H.v. 5,00 EUR vom Gesamtbetrag oder 5 Cent vom Einheitspreis) erfolgen. In beiden Fällen darf aber nur das tatsächlich verwogene Gewicht in der Abrechnung auftauchen. Abgerechnet werden müssten daher in unserem Beispielsfall 200 Tonnen zu einem Gesamtpreis von 195,00 bzw. einem Einheitspreis von 0,95 EUR/t. Dass das nicht nur den Vertragspartnern schwer zu vermitteln ist, sondern auch einen erheblichen Aufwand bei der internen Umstellung erfordert, dürfte einleuchten. Und richtig kompliziert wird es dann, wenn für das interne Warenwirtschaftssystem wieder eine (dem Gesetz nach zulässige) Umwandlung der prozentualen oder pauschalen Preisreduzierungen in geschätzte Gewichtsabzüge erfolgen muss, weil die in der Abrechnung angegebenen 200 Tonnen wegen der Schmutzanhaftungen oder Feuchtigkeit faktisch natürlich nicht das früher meist sehr zutreffend schätzweise ermittelte Nettogewicht der jeweiligen reinen Ware widerspiegeln.

Sie kritisieren auch das Verbot von gespeicherten Tara-Gewichtswerten bei Lkw. Welche Auswirkungen hat das auf die Branche?

Durchaus gravierende, denn hierdurch müssen viele Betriebe in eine zweite Waage investieren. Der Grund ist, dass die jeweilige Mindest- bzw. Höchstlast der verwendeten Waage nicht nur bei der Ermittlung des Brutto-Gewichts (beladener Lkw) und des Tara-Gewichts (entladener Lkw) eingehalten werden muss, sondern auch für das so ermittelte Netto-Waren-Gewicht nicht über- oder unterschritten werden darf. Es kommt auch zu erheblichen Verzögerungen in der Logistik, da die Lkw bei jeder Verwiegung zweimal über die Waage fahren müssen, einmal mit und einmal ohne Ware, um das tatsächliche Tara-Gewicht, das je nach Füllstand des Tanks variieren kann, zu ermitteln.

Aber der Gesetzgeber will nun eine Bagatellgrenze einführen…

…, ja, aber diese Grenze liegt bei 20,00 EUR/t, bezogen auf den Warenwert oder die Entsorgungskosten. Dies dürfte zwar beispielsweise für Lieferungen von Kies und Sand ausreichen. Für viele Abfälle betragen die Entsorgungskosten aber regelmäßig mehr. Das heißt, dass nur ganz wenige auf die Annahme weniger Materialien mit Warenwerten bzw. Entsorgungskosten unterhalb der beabsichtigten Bagatellgrenze spezialisierte Unternehmen letztlich von diesem Entgegenkommen des Gesetzgebers profitieren können. Für alle anderen heißt es nach wie vor: Abläufe umstellen und ggf. neue Waagen anschaffen.

Inwieweit sind die neuen Vorschriften bei den Unternehmen präsent?

Bisher haben die Behörden stillgehalten und noch nicht eingegriffen. Viele betroffene Unternehmen halten sich noch an den berühmten Satz „wo kein Kläger,…“. Leider kann man das Thema aus meiner Sicht nicht so leicht nehmen. Abzuschätzen sind immer die Risiken, die ein Unternehmen eingeht, wenn doch einmal ein „Kläger“ kommt. Das muss ja nicht notwendigerweise die zuständige Behörde aus eigenem Antrieb sein; auch ein verärgerter Mitbewerber oder unzufriedener Vertragspartner könnten das Thema aufgreifen. Neben den drohenden Bußgeldern und zivilrechtlichen Rückabwicklungsansprüchen zahlreicher Vertragspartner dürfte vor allem der Reputationsschaden für viele besonders schwerwiegend sein. Hübsch aufbereitet und vielleicht im Sommerloch serviert, kann das Bekanntwerden von „Unstimmigkeiten“ bei der Verwiegung auch schnell einmal zu einer großen Story werden. Wir raten daher dringend zur Umstellung. Schließlich sind die neuen Regelungen schon seit dem Jahr 2015 in Kraft und die Zurückhaltung der Behörden dürfte nach Ablauf von mehr als zwei Jahren, die den Betrieben stillschweigend zur Umstellung gewährt wurden, langsam weichen.

Von der anstehenden Novelle der Mess- und Eichverordnung ist auch keine Unterstützung für die Recyclingbranche zu erwarten?

Nein, die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber doch noch Branchenausnahmen regelt, ist sehr gering. Schließlich wurde das Thema von den beteiligten Kreisen in den vergangenen Jahren ausführlich mit dem Gesetzgeber diskutiert. Der Gesetzgeber will schlichtweg keine Branchenausnahme einführen. Da ist ihm die Transparenz der Wiegevorgänge wichtiger als Effizienz, Schnelligkeit und Kostenvermeidung in den Betrieben.

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