Nach der Bundestagswahl

Die Grünen haben bei der Bundestagswahl schwächer abgeschnitten als viele Anhänger der Klimabewegung erhofft haben. Wird die Klimabewegung jetzt radikaler auftreten? Gut möglich, meint der Freiburger Politikwissenschaftler Michael Wehner. Die Anhänger könnten den Gang verschärfen.

„Da ist viel Enttäuschung“


Das Ergebnis der Bundestagswahl könnte nach Ansicht des Freiburger Politikwissenschaftlers Michael Wehner zu einer Radikalisierung der Klimabewegung führen. „Da ist viel Enttäuschung, dass die Grünen doch eher zu den Verlierern zu zählen sind“, sagte Wehner der Deutschen Presse-Agentur. „Gerade aufgrund dieser Frustration und Enttäuschung könnte das bei einigen auch zu einer gewissen Radikalisierung mit Straßenprotesten und Boykottaktionen führen.“ Statt einer großen Klimaerneuerung fürchteten sie eine „Kompromisskoalition“ und würden möglicherweise „den Gang verschärfen“.

Das Thema Klimaschutz sei auch nach der Bundestagswahl und trotz des dritten Platzes der Grünen vor allem für jüngere Menschen keineswegs vom Tisch, sagte Wehner. „Das wird auch weiterhin den Generationenunterschied ausmachen, den wir auch bei dieser Wahl im Verhalten der jüngeren Wähler gesehen haben.“

Nach der Wahl erwartet Wehner ein schwere, aber nicht zwangsläufig überlange Koalitionsfindung mit besonderen Angeboten für die Grünen und die FDP. „CDU und SPD werden sicherlich alles daransetzen, FDP und Grüne zu überzeugen, dass eine Koalition unter ihrer Führung die Gewinnbringendere für die Parteien ist.“ Vor allem die CDU werde alles dafür tun, sich „strohhalmmäßig an der Regierung zu halten“, sagte Wehner. Tendenziell habe aber aufgrund des Wahlergebnisses und der Stimmung in der Bevölkerung die SPD leichte Vorteile.

SPD zweifelt „moralisches Recht“ an

Nach dem vorläufigen amtlichen Wahlergebnis kommt die SPD auf 25,7 Prozent der Wahlstimmen (2017: 20,5 Prozent). CDU/CSU stürzt auf ein Rekordtief und verbucht nur noch 24,1 Prozent (32,9). SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sieht das Ergebnis als deutliches Signal für einen Regierungsanspruch seiner Partei. „Wir leben in einer Demokratie. In einer Demokratie hat am Wahltag der Wähler und die Wählerin das Wort. Und mit den Ergebnissen müssen die Parteien verantwortungsvoll umgehen“, sagte Walter-Borjans am Montag im Deutschlandfunk. „Dass sie Gespräche führen, ist niemandem zu verwehren.“ Wenn man aber „mit Abstand Zweiter“ werde, habe man zwar die Möglichkeit zur Regierungsbildung, „aber das moralische Recht hat man nicht“, sagte Walter-Borjans.

Die SPD und die Union lägen im Ergebnis – anders, als vielfach von der Union betont – doch nicht ganz so nahe beieinander, betonte er. „Ich glaube, dass die Bevölkerung in der Bundesrepublik ein ganz deutliches Wort gesprochen hat: Sie will keinen Kanzler Laschet und sie will einen Aufbruch, der Klimaschutz, aber eben soziale Verantwortung und wirtschaftlichen Fortschritt zusammenbringt.“ Grüne und auch FDP müssten jetzt entscheiden, „ob sie sich an eine Partei des Absturzes hängen wollen und das für eine bürgerliche Erneuerung halten“, so Walter-Borjans.

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hat unterdessen den Anspruch der Union verteidigt, trotz Verlusten eine kommende Bundesregierung anzuführen. Jetzt gehe es um die Frage, eine „stabile Regierung“ zu bilden, sagte Ziemiak am Montagmorgen nach der Wahl im ARD-«Morgenmagazin». Dafür gebe es nun „zwei Optionen, die auf dem Tisch liegen“. Die entscheidende Frage sei, welche der Optionen es schaffen könne, ein „echtes Zukunftsprojekt“ anzubieten und Mehrheiten im Parlament zu finden.

Die deutlichen Verluste seiner Partei bei der Bundestagswahl bezeichnete Ziemiak als „bitter“: „Ich finde, bei diesen Verlusten darf man auch nichts schönreden.“ Der Wahlkampf sein nun aber vorbei. Nun müssten alle Seiten ausloten, in welchem Bündnis etwa Themen wie Klimaschutz und soziale Sicherheit miteinander vereinbar seien. Außerdem müsse garantiert sein, dass Deutschland ein starker Industriestandort bleibe.

„Historisch schwacher Kandidat“

Die Forschungsgruppe Wahlen führt das Debakel der Union bei der Bundestagswahl auf einen „historisch schwachen Kandidaten“, Imageverluste als Partei und erhebliche Defizite bei Sachkompetenzen zurück. Zugleich habe die SPD von ihrem Parteiansehen, einem gewachsenen Politikvertrauen und dem einzigen Kandidaten profitiert, dem die Wähler Kanzlerqualitäten zuschreiben würden, heißt in der Wahlanalyse der Forschungsgruppe von Sonntagabend.

67 Prozent der Deutschen halten demnach SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz als Regierungschef für geeignet. Bei CDU-Chef Armin Laschet fänden dies dagegen nur 29 Prozent und bei Grünen-Chefin Annalena Baerbock 23 Prozent. In einer Wahlstudie des Meinungsforschungsinstituts Forsa in Kooperation mit RTL/ntv geben 53 Prozent Laschet die Schuld für die historische Wahlschlappe von CDU/CSU, weil er der falsche Kanzlerkandidat gewesen sei. 62 Prozent meinen, er solle die Verantwortung übernehmen und als CDU-Vorsitzender zurücktreten.

Wirtschaftsverbände haben angesichts des engen Ausgangs bei der Bundestagswahl vor einer langen Regierungsbildung gewarnt. „Es darf jetzt keine monatelange Hängepartie geben“, sagte die Chefin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, Kerstin Andreae, am Sonntag in Berlin. „Wir brauchen schnellstmöglich eine Koalition für Klimaschutz und Energiewende. Egal welche Koalition es am Ende sein wird: Jede neue Regierung muss schnell ins Handeln kommen.“ Dies sei angesichts der Ziele und Vorgaben aus dem deutschen Klimaschutzgesetz unerlässlich.

Der Industrieverband BDI fordert die Parteien auf, wichtige Entscheidungen zugunsten des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu treffen. „Angesichts des unklaren Wahlausgangs erwartet die deutsche Industrie jetzt von allen Parteien maximale Verantwortung und Anpacken der Prioritäten statt taktischer Manöver“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm am Montag.

Um Herausforderungen wie Klimaschutz, digitalen Wandel oder geopolitische Krisen zu bewältigen, brauche man etwa eine Verwaltungsreform, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren und ein Wachstumsprogramm. „Die Stärkung unserer Wirtschaftskräfte und das Bekenntnis zum Industrie-, Export- und Innovationsland Deutschland sind ohne Alternative für jede denkbare Koalition“, sagte Russwurm.

Der Präsident des Verbands Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée, betonte, es komme nun auf die Grünen und FDP an. „Rot-Rot-Grün wäre ein Worst-Case-Szenario für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland gewesen.“ Die nächste Bundesregierung müsse lernen, beim Thema Nachhaltigkeit die Wirtschaft als Partner zu begreifen, nicht als Gegner.

320°/dpa/sk

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