Deutsche Wirtschaft
Kurzfristig sind die Wachstumsaussichten der deutschen Wirtschaft eingetrübt, mittelfristig erst recht: Der Sachverständigenrat für Wirtschaft warnt vor strukturellen Problemen. Sie könnten die Konjunktur auf Jahrzehnte ausbremsen. Auch 2024 soll schlechter ausfallen als bislang erwartet.
Wirtschaftsweise warnen vor anhaltender Wachstumsflaute
Die deutsche Wirtschaft erholt sich nur schleppend von der Energiekrise – doch die erwartete Rezession ist für den Sachverständigenrat für Wirtschaft nicht das größte Problem. In ihrem am Mittwoch vorgestellten Jahresgutachten warnen die Wirtschaftsweisen vor strukturellen Schwächen: Angesichts unzureichender Investitionen, fehlender Arbeitskräfte und zu wenig innovativer Unternehmen drohe eine jahrzehntelange Wachstumsflaute.
Die Experten gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr zurückgeht. „Die konjunkturelle Erholung in Deutschland verzögert sich“, sagte die Vorsitzende des Sachverständigenrats, Monika Schnitzer. Sie werde durch die Folgen der Energiekrise und die Inflation gebremst. Höhere Zinsen führten zu weniger Investitionen und Bautätigkeit.
Die Wirtschaftsweisen erwarten daher, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um 0,4 Prozent schrumpft. Ähnliche Prognosen hatten zuletzt die Bundesregierung und die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute abgegeben.
Für das kommende Jahr rechnet der Sachverständigenrat mit einem Rückgang der Inflation und einer Belebung des privaten Konsums. Allerdings erholt sich die Weltwirtschaft – insbesondere in China – nur langsam. Die exportorientierte deutsche Wirtschaft bekommt dies besonders zu spüren. Deshalb erwarten die Wirtschaftsweisen nur ein Wachstum von 0,7 Prozent. Damit sind sie pessimistischer als Bundesregierung und Institute, die ein Plus von 1,3 Prozent erwarten.
Wachstumsaussichten schlecht
Die weiteren Aussichten sind düster. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft seien auf einem historischen Tiefstand, sagte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Das liege vor allem daran, dass Arbeitskräfte knapp werden. „Die Entwicklung ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, aber es zeigt sich deutlich, es sind zeitnah wirtschaftspolitische Entscheidungen notwendig, die Wachstumsaussichten zu verbessern“, betonte Grimm. Man müsse mehr Frauen, Ältere und Fachkräfte aus anderen Ländern in den Arbeitsmarkt bekommen.
Der Wirtschaftsweise Martin Werding warf den bisherigen Regierungen vor, nicht angemessen auf die demografische Entwicklung reagiert zu haben. Er verwies auf die Generation der Babyboomer, die nicht mehr arbeiten und gleichzeitig wegen der höheren Lebenserwartung immer länger Rente beziehen. Eine Stellschraube aus Sicht der Wirtschaftsweisen ist die Anhebung des Renteneintrittsalters – und die Koppelung an die steigende Lebenserwartung. Steigt die Lebenserwartung um ein Jahr, sollte man acht Monate länger arbeiten. Konkret hieße das: 2051 gäbe es die Rente erst mit 68.
Problem: Alternde Industrie
Allerdings droht Deutschland in den kommenden Jahrzehnten nicht nur eine Überalterung der Bevölkerung, sondern auch der Industrie, weil zu wenig modernisiert wird. „Investitionen sind von ganz entscheidender Bedeutung, die deutsche Volkswirtschaft wieder nachhaltig auf Wachstumskurs zu bringen“, betonte Grimm. Zurzeit seien die Quoten in allen Wirtschaftszweigen rückläufig. Dabei könnten moderne Anlagen fehlende Arbeitskräfte ersetzen und produktiver sein. Auch müsse die Wirtschaft offener für den Einsatz künstlicher Intelligenz werden.
Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge forderte am Mittwoch eine Investitionsoffensive für einen modernen Wirtschaftsstandort. „Die Schuldenbremse darf dabei keine Investitionsbremse sein“, sagte sie. Die Wirtschaftsweisen gaben diesmal keine gemeinsame Stellungnahme zur Schuldenregel im Grundgesetz ab. Schnitzer sagte aber, sie persönlich halte sie grundsätzlich für richtig. Der Sozialökonom Achim Truger betonte, auch mit Schuldenbremse gebe es Möglichkeiten, mehr zu investieren, etwa über die Ausnahmeregel und Spielräume im Haushalt.
Wirtschaftsminister Robert Habeck räumte ein, dass weitere Maßnahmen nötig seien, um „Wachstumschancen wahrnehmen zu können“. Der Sachverständigenrat weise zu Recht auf die hohen Investitionen hin, die Deutschland als Volkswirtschaft im Zuge des klimaneutralen Umbaus tätigen müsse.
Wunsch: Stärkere Aktienkultur
Die Deutschen seien viel zu sehr Sparer und trauten sich nicht an den Kapitalmarkt, kritisierte die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier. Dabei gelte: „Mehr Kapitalinvestitionen schaffen mehr zukunftsträchtige Unternehmen.“ Das sei der wichtigste und am schnellsten wirkende Hebel, um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln.
Versicherungen oder Pensionskassen müssten sich stärker engagieren und zukunftsträchtige Unternehmen auch in späteren Wachstumsphasen finanzieren. „Wenn dann nur zwei von zehn Unternehmen funktionieren, eines vielleicht gar die nächste deutsche Weltfirma wird, dann lohnt sich das für die deutsche Wirtschaft, für die Kapitalgeber, für alle.“ In anderen Ländern wie den USA oder Schweden funktioniere das gut.
Auch junge Menschen sollten sich an der Börse üben, raten die Wirtschaftsweisen. Jugendliche sollten vom Staat ein Startkapital erhalten, ab sechs Jahren etwa zehn Euro im Monat, und dieses in breit gestreute Aktienfonds investieren – begleitet von Schule und Elternhaus. Das steigere die finanzielle Bildung und nehme den Kindern die Berührungsängste.