EuGH-Verfahren
Der Bundesverkehrsminister hat einen Brandbrief an die EU-Kommission geschrieben. Er befürchtet, dass viele Dieselautos aus dem Verkehr gezogen werden könnten. Der ADAC hält das für unwahrscheinlich.
Wissing warnt vor Stilllegung von Millionen Dieselfahrzeugen
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) warnt die EU-Kommission vor der Stilllegung von Millionen Dieselfahrzeugen. Hintergrund ist eine mögliche neue Auslegung bei der Einhaltung von Schadstoffgrenzwerten. Dazu läuft derzeit ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu einem sogenannten Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Duisburg. Dabei geht es auch um die Einhaltung von Schadstoffgrenzwerten bei der Abgasnorm Euro 5 für Dieselfahrzeuge.
Wissing fordert in einem Schreiben an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Klarstellung. Die EU-Kommission müsse jetzt schnell handeln, sagte der Minister der „Bild“-Zeitung. „Ich bin in großer Sorge.“
Nach EU-Recht müssen die Schadstoffwerte unter den sogenannten NEFZ-Testbedingungen eingehalten werden. Dies geschieht stationär in Testzentren. Für die Typgenehmigung von Neufahrzeugen ab der Norm „Euro 6d temp“ gilt seit September 2017 das sogenannte RDE-Verfahren, mit dem neben dem Prüfzyklus auch bestimmte Realbedingungen abgebildet werden können.
Im EuGH-Verfahren habe die EU-Kommission die Auffassung vertreten, so Wissing, dass die Schadstoffgrenzwerte auch außerhalb der „Betriebs- und Umgebungsbedingungen“ des NEFZ-Verfahrens gelten und zwar für jede Fahrsituation. Das würde bedeuten, dass die Grenzwerte auch bei sogenannten „Volllastfahrten“ an Steigungen eingehalten werden müssten – also wenn ein Auto voll beladen bergauf fährt und der Motor seine maximal mögliche Leistung erreicht.
Wissing warnt vor den Folgen
„Dies ist nach derzeitigem Stand der Technik nicht umsetzbar und würde damit die in Verkehr befindlichen Fahrzeuge eine nicht realisierbare nachträgliche Anforderung darstellen“, so Wissing in dem Schreiben. Alle Euro-5-Genehmigungen wären in Frage gestellt. Auch Auswirkungen auf Fahrzeuge mit der Abgasnorm Euro 6 seien möglich.
„Millionen von Fahrzeugen droht damit die Außerbetriebsetzung“, so Wissing. Allein in Deutschland wären 4,3 Millionen Euro 5- und gegebenenfalls 3,9 Millionen Euro 6-Dieselfahrzeuge betroffen. Euro-5-Dieselfahrzeuge wurden in der Regel zwischen 2009 und 2014 zugelassen.
Nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes werden Anfang 2024 rund 49 Millionen Pkw in Deutschland unterwegs sein. Eine Lösung könnte laut Wissing darin bestehen, noch vor der EuGH-Entscheidung eine Klarstellung in den entsprechenden Vorschriften vorzunehmen.
„Irreführend“
Die EU-Kommission erklärte am Samstag in einem Antwortschreiben, dass sie nicht die Absicht habe, rückwirkende Änderungen vorzunehmen. Auch wolle die Kommission keine Maßnahmen ergreifen, „die Bürger, die Autos in gutem Glauben gekauft haben, in irgendeiner Weise benachteiligen würden“. Betont wurde zudem, den Automobilherstellern solle kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand aufgebürdet werden.
Aus dem Bundesverkehrsministerium hieß es dazu, der Minister sehe sich durch das Schreiben des EU-Binnenmarktkommissars Thierry Breton in seiner Sorge bestätigt. Die Kommission betone zwar, dass sie gegenüber den Autoherstellern und Bürgern keine rückwirkenden Maßnahmen plane. Darum gehe es aber nicht. Es wäre nämlich nicht die Kommission, sondern der EuGH, der diese Entscheidung treffen würde, betonte eine Sprecherin.
„Aus diesem Grund ist es jetzt wichtig, wie von Bundesminister Wissing vorgeschlagen, eine Klarstellung im europäischen Regelwerk vorzunehmen“, so die Sprecherin. Wissing sei dazu bereits auf seine EU-Amtskolleginnen und -Amtskollegen zugegangen.
Breton nannte Wissings Annahme in dem Antwortschreiben „irreführend“. Die Kommission habe lediglich festgestellt, „dass die Pkw-Emissionsgrenzwerte unter normalen Einsatzbedingungen eingehalten werden müssen“, ergänzte ein Sprecher. Damit sei nicht jede Fahrsituation gemeint. Auch habe die Behörde ihren Standpunkt in dieser Frage nie geändert.
Breton schrieb: „Ohne dem Ergebnis des anhängigen Gerichtsverfahrens vorzugreifen, wird die Kommission weiterhin Lösungen fördern, die saubere und gesunde Luft begünstigen und einen vorhersehbaren und umsetzbaren Rechtsrahmen fördern.“
ADAC und Autoindustrie fordern Klarstellung
Eine Sprecherin des Automobilclubs ADAC sagte, eine Klarstellung sei dringend erforderlich, um die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht weiter zu verunsichern. Die Diskussion über eine drohende Stilllegung von Fahrzeugen sei jedoch „unsachgemäß“. Die betroffenen Fahrzeuge seien zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme ordnungsgemäß zugelassen worden und hätten Bestandsschutz.
„Änderungen im Messverfahren bei der Typgenehmigung eines Kfz zu einem späteren Zeitpunkt können nach Auffassung von ADAC-Juristen nicht rückwirkend Anwendung finden“, so die Sprecherin. Eine Betriebsuntersagung sei vor diesem Hintergrund „abwegig“.
Auch die Präsidentin des Verbands der Deutschen Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, forderte von der Bundesregierung und der EU-Kommission eine rasche Klarstellung über die Zulassung älterer Dieselfahrzeuge. Müller sagte der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (Freitag), die EU-Kommission müsse die Zulassung durch eine rechtliche Klarstellung absichern. „Rückwirkende Anwendungen neuer Verfahren und Maßstäbe wären ohnehin ein Verstoß gegen den Grundsatz des Rückwirkungsverbots und das Rechtsstaatsprinzip im EU- und deutschem Verfassungsrecht.“
FDP-Fraktionschef Christian Dürr sagte der dpa: „EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht weiterhin eine Politik gegen die Autofahrer. Die Zukunft des Verbrennungsmotors ist immer noch unklar und nun droht auch noch Millionen Diesel-Autos die Stilllegung, weil sich die Verfahren zur Abgasmessung ändern sollen.“ Von der Leyen müsse jetzt eine Neuregelung vorlegen, damit die Betroffenen Planungssicherheit hätten.