Prozess um tödlichen Unfall

Ein 82-jähriger Mann wird von einem Müllfahrzeug überrollt. Er stirbt. Wer trägt die Schuld? Der Mann oder der Fahrer? Eigentlich keiner von beiden, meint das Gericht. Mitverantwortlich sei allerdings die Entsorgungsfirma.

Die Schuldfrage


Am 24. Februar 2015 überquert ein 82-jähriger Mann die Kreuzung an der Albert-Schweitzer-/Rudolf-Krahl-Straße in Chemnitz. Er geht unmittelbar vor einem Abfallsammelfahrzeug über die Straße. Als er sich genau vor dem Entsorgungsfahrzeug befindet, fährt der Wagen an und überrollt den Mann. Der Rentner wird schwer verletzt und stirbt noch am Unfallort.

Der Unfall beschäftigt die Staatsanwaltschaft, es kommt zum Prozess. Der 54-jährige Fahrer des Entsorgungsfahrzeuges muss sich vor dem Amtsgericht verantworten. Der Vorwurf lautet auf fahrlässige Tötung. Doch der Amtsrichter sieht den Sachverhalt anders und spricht den Fahrer frei. Eine falsche Entscheidung, wie die Staatsanwaltschaft meint. Sie geht in Berufung.

Gestern (12. Juli) wurde der Unfall erneut verhandelt. Dieses Mal vor dem Landgericht Chemnitz. Bei der Verhandlung ging es vor allem um die Frage, ob der Fahrer den Rentner hätte sehen müssen. Doch das ist offenbar nur schwer möglich gewesen, wie sich bei der Verhandlung herausstellte. Denn Personen, die 1,67 Meter und kleiner sind, können von der Sitzposition des Fahrers aus nicht erkannt werden, sofern sie sich unmittelbar vor dem Fahrzeug befinden. Um sie zu sehen, müsste sich der Fahrer von der Sitzposition erheben und vorbeugen. Doch das sei bei 200 bis 400 Anfahrsituationen pro Tag nicht zumutbar, erklärte ein Sprecher des Landgerichts. Der Rentner selbst war ebenfalls 1,67 Meter groß.

Als verhängnisvoll erwies sich außerdem, dass das Fahrzeug keinen Spiegel hatte, der den Blick vor das Fahrzeug ermöglicht hätte. Zwar hatte das Fahrzeug eine Kamera, doch der Bildschirm sei nach Angaben eines Gutachters qualitativ so schlecht gewesen, dass es auf den ersten Blick nicht möglich gewesen wäre, etwas zu erkennen, erklärte der Gerichtssprecher.

Vorgesetzte tragen Mitverantwortung

Wie Zeugen während der Verhandlung angaben, sei die schlechte Kameraqualität den Vorgesetzten des Fahrers bekannt gewesen. Der Fahrer ist beim Entsorgungsunternehmen Wetrac beschäftigt, ein Tochterunternehmen des Abfallentsorgungs- und Stadtreinigungsbetriebes der Stadt Chemnitz (ASR). Die Verhandlung habe deshalb die Frage aufgeworfen, warum ASR nichts dagegen unternommen habe, sagte der Gerichtssprecher. Unter Umständen hätte dadurch der tödliche Unfall vermieden werden können. Stattdessen seien die Fahrer jeden Tag mit dem Risiko losgeschickt worden, dass kleinere Menschen bei jedem Anfahren überfahren werden können. Die Vorgesetzten des Fahrers hätten deshalb eine Mitverantwortung für den tödlichen Unfall.

Eine strafrechtliche Verfolgung muss ASR gleichwohl eher nicht befürchten. Für ein Organisationsverschulden muss nämlich eine individuelle Täterschaft nachgewiesen werden. Das ist in der Praxis schwierig, weil in Frage kommende Personen sich in der Regel gegenseitig die Schuld zuschieben. Dennoch will die Staatsanwaltschaft prüfen, ob sie weitere rechtliche Schritte einleiten wird. Nach Angaben des Sprechers habe ASR zwischenzeitlich an allen Entsorgungsfahrzeugen geeignete Spiegel angebracht, um tote Winkel auszuleuchten.

Für den Fahrer des Entsorgungsfahrzeuges ging das Verfahren glimpflich aus. Das Verfahren gegen ihn wurde wegen geringer Schuld eingestellt. Er bekam eine Geldauflage von 1.300 Euro auferlegt.

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