Interview über die Lage bei den Endverarbeitern von E-Schrott

Marktstudien, die einen regelrechten E-Schrott-Hype verkünden, hält Umicore-Manager Thierry Van Kerckhoven für problematisch. Im Interview erklärt er, wo die Gefahren liegen und warum Flexibilität angesichts der technischen Weiterentwicklung von Elektronikprodukten so wichtig ist.

„Die Zukunft wird nicht so schön sein, wie es sich viele ausgemalt haben“


Thierry Van Kerckhoven, Global Sales Manager bei Umicore Precious Metals Refining, bezweifelt, dass es sich noch lohnt, in Westeuropa in eine größere E-Schrott-Recycling-Kapazität zu investieren. Im Interview mit 320° warnt er davor, dass Betriebe aufgrund von irreführenden Studien falsche Investitionsentscheidungen treffen könnten. Denn schon heute bestehen Überkapazitäten bei den Endverarbeitern.

Umicore
Umicore

Herr Van Kerckhoven, die E-Schrott-Verwerter kämpfen derzeit mit schwierigen Rahmenbedingungen. Manche Branchenvertreter gehen davon aus, dass es noch schlimmer kommen könnte. Teilen Sie den Pessimismus?

Nein. Man kann nicht pauschal sagen, dass alles nur schlimmer und schlechter wird. Aber im Moment muss man sich tatsächlich die Frage stellen, ob es sich überhaupt noch lohnt, um zum Beispiel in Westeuropa in eine größere E-Schrott-Recycling-Kapazität zu investieren.

Angenommen, Umicore müsste heute über den Einstieg in das E-Schrott-Geschäft entscheiden. Wie würde die Antwort ausfallen?

Wenn es sich um eine neue Anlage handeln würde, die nur für Elektronikschrott geeignet ist und ausschließlich Leiterplatten verarbeiten kann, würden wir diese Investition wahrscheinlich nicht tätigen. Weder in Belgien noch anderswo. Glücklicherweise bietet die Anlage, die wir hier in Hoboken betreiben, eine sehr große Flexibilität. Abhängig von dem, was zur Verfügung steht, können wir den Materialeinsatz sehr gut anpassen. Diese Flexibilität hat auch damit zu tun, dass E-Schrott nur einen Teil von unserem Input ausmacht. Sonstige Materialien bestehen aus Rückständen aus der Nichteisen-Industrie und Recyclingprodukten wie alte Autokatalysatoren und industrielle Katalysatoren.

Warum würden Sie eine derartige Investition scheuen? Weil E-Schrott in Zukunft immer weniger wert sein wird?

Das ist natürlich schwer zu sagen. Aber es ist eine Tatsache, dass durch die Miniaturisierung und steigende Multifunktionalität der Geräte die Mengen an edelmetall- und kupferhaltigen Geräten wahrscheinlich nicht steigen werden – auf jeden Fall nicht in Märkten wie Westeuropa. Auch steht zu vermuten, dass die heutige Tendenz zu einem geringeren Einsatz von Edelmetallen in Elektrogeräten sich nicht wieder umbiegen wird.

Nichtsdestotrotz prognostizieren Analysten, dass der globale E-Schrott-Markt in den kommenden Jahren wachsen wird. Wie passt das ins Bild?

Derartige Studien und auch die Berichterstattung darüber halten wir für sehr problematisch. Denn oft wird nicht deutlich, was die Analysten genau meinen: Soll der Umsatz steigen oder die Menge? Auch bleiben sehr viele Fragen offen wie: Wie wird der Umsatz berechnet – basierend auf dem Preis für Neugeräte? Oder ist das der Umsatz, der für Altgeräte erzielt werden kann? Aber wie wird der Preis bestimmt? Ist das der Preis für den Wiederverkauf von Metallen und Kunststoffen? Welche Metall- und Kunststoffpreise werden dabei berücksichtigt? Welcher E-Schrott ist überhaupt gemeint? Die Spannbreite an E-Schrott-Qualitäten ist von Kühlgeräten und Waschmaschinen bis hin zu Handys sehr groß. Vielleicht steht das dezidiert in den Studien, aber aus der Berichterstattung in den Medien geht das jedenfalls nicht hervor.

Dennoch unterstellen die Studien ein weiteres Umsatzwachstum.

Ja, und das ist ebenfalls problematisch. Wir stellen fest, dass aufgrund derartiger Studien und Wachstumsprognosen jedermann denkt: The Sky is the Limit, in diesen Markt kann man getrost einsteigen. Die Zukunft und auch schon die Gegenwart sind bei weitem nicht so sonnig, wie es diese Studien suggerieren. Denn man darf die Umsätze nicht isoliert sehen. Beim Recycling fallen gleichzeitig auch Kosten an. Es kann schon sein, dass die Metallpreise steigen und höhere Umsätze erzielt werden können. Aber es kann genauso gut passieren, dass die Einsammlung und das Recycling der Geräte viel teurer werden. Das könnte bedeuten, dass im Laufe der kommenden Jahre der Umsatz steigt, aber dass die Kosten noch stärker steigen. Dann ergibt sich gleich ein ganz anderes Bild.

Aber dass das Aufkommen steigen wird, unterstreichen Sie schon?

Elektroschrott-Aufkommen in ausgewählten europäischen Ländern 2012Nein, denn auch hier werden falsche Erwartungen geweckt. Nehmen Sie zum Beispiel die Annahme, dass in Zukunft mehr elektronische Altgeräte entsorgt werden und einem Recycling zur Verfügung stehen. Zwar werden unter anderem durch die zunehmende Miniaturisierung der Produkte mehr Geräte verkauft werden. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass auch die Gewichtsmenge der verkauften Geräte steigt. Wir erwarten, dass die Gewichtsmenge von Produkten der Kategorien 2, 3 und 4 im Jahr 2020 im Vergleich zu 2010 in Westeuropa um 30 Prozent niedriger liegen wird. Zudem stellt sich die Frage, ob die immer kleiner werdenden Geräte überhaupt eingesammelt werden können. Die Gefahr besteht, dass Betriebe aufgrund dieser Studien und Artikel falsche Investitionsentscheidungen treffen, nur um später festzustellen, dass sie eine viel zu große Kapazität geschaffen haben. Darüber hinaus gibt es mittlerweile zu viele Player auf dem Markt und keiner kann eigentlich noch Geld verdienen. Die Folge: Betriebe gehen Pleite, viele Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze.

Welche Rolle spielen Überkapazitäten bei der Marktbetrachtung?

Bei den Endverarbeitern gab es bis vor vier, fünf Jahren eine Knappheit hinsichtlich der Verarbeitungskapazitäten. In der Zwischenzeit sind mehrere neue Marktteilnehmer hinzugekommen. Darüber hinaus haben die bestehenden modernen integrierten Verarbeiter die bestehenden Kapazitäten ausgebaut. Einige Player verfügen über Kapazitäten von bis zu 120.000 Jahrestonnen E-Schrott. Dadurch sind die Kapazitäten dermaßen stark gestiegen, dass jetzt und auch für die kommenden Jahre eine Überkapazität besteht.

Das heißt, Endverarbeiter wie Umicore können nicht mehr die Preise verlangen, die sie früher für die Verarbeitung des Inputmaterials verlangt haben, weil auch sie die Auslastung der Anlagen sicherstellen müssen?

Nein. Wie bereits gesagt, ist Flexibilität unsere Stärke. Um profitabel zu sein, brauchen wir keine komplette Auslastung unserer Anlagen. Wir stellen jedoch fest, dass es durch den Rückgang der Metallgehalte und der Preise einiger Metalle für unsere Kunden immer wichtiger wird, den Maximalwert für ihre Produkte zu bekommen. Die Höhe der Verarbeitungsgebühren bei Schmelzern ist dann nicht unwichtig. Noch wichtiger ist aber die Genauigkeit der Beprobung und Analyse. Auch auf diesen Gebieten bietet Umicore weltweit anerkannte Dienstleistung an.

Aber die Konkurrenz ist zweifelsohne groß.

Ja, man sieht mehr und mehr asiatische Endverarbeiter, vor allem Kupferhütten aus Japan und Südkorea, die in die Märkte in Nordamerika und Europa eingetreten sind. Diese Unternehmen haben selbst festgestellt, dass ihre heimischen Märkte ausgetrocknet sind. Die Mengen, die sie erwartet haben, gibt es schlichtweg nicht, aber in der Zwischenzeit haben sie Verarbeitungskapazitäten aufgebaut. Um diese füllen zu können, müssen sie sich international umsehen. Da scheint die Denkweise zu herrschen: Survival of the Fittest und die Hoffnung, dass die etablierten Player aus dem Markt gehen und sie den Markt beherrschen können. In der Praxis aber kann man sich keine langfristige Marktführungsposition kaufen. In dem Moment, in dem man glaubt, den Markt erobert zu haben, treten die gerade Eroberten wieder in den Markt.

Gilt das für jeden „Eroberten“?

Das gilt auf jeden Fall für die stärkeren, flexibleren Marktspieler. Neue Spieler, die völlig abhängig sind von der Verarbeitung von E-Schrott, sind in diesem Sinne einfacher aus dem Markt zu stoßen. Aber bevor man überhaupt mit der Verarbeitung von E-Schrott anfängt, sollte man sich die Frage stellen, ob der Prozess Wert schöpft und ob man – wie die Banken – einen normalen „Stresstest“ überleben würde.

Wie passt es ins Bild, dass Umicore selbst gerade dabei ist, die Kapazität der Fabrik in Hoboken, also die Recyclingkapazitäten für komplexe Edelmetalle, um satte 40 Prozent zu steigern? Kommt dieser Ausbau nicht zur Unzeit?

Ganz und gar nicht. Wir brauchen dieses Mehr an Kapazität, weil wir davon ausgehen, dass wir mehr komplexe Materialien wie Minenkonzentrate und edelmetallhaltige industrielle Nebenprodukte bekommen können. Statt 350.000 Jahrestonnen werden wir Ende 2016, Anfang 2017 voraussichtlich zwischen 450.000 und 470.000 Tonnen verarbeiten. Die Investition in Hoboken ist vor allem darauf ausgerichtet, mehr Non-Recyclables zu kontraktieren.

Das heißt, dass Umicore beim E-Schrott einen Gang runterschaltet?

Nein! Wenn wir Recyclables, seien es Autokatalysatoren, sei es E-Schrott, profitabel akquirieren können, werden wir in diesem Bereich bestimmt nicht nachlassen. Aber unser Hauptansatz liegt schon auf den steigenden Volumen an industriellen Nebenprodukten und komplexen Minenkonzentraten.

Wie stark ist Umicore überhaupt von der Verarbeitung von E-Schrott abhängig?

Wenn die Konditionen, die wir für die Verarbeitung für Leiterplatten bekommen können, uns nicht gefallen, könnten wir theoretisch gesehen das Ganze hier ohne ein Kilogramm Leiterplatten betreiben.

Aber wäre das optimal?

Nein. Das wäre allein schon aus Gründen der Metallurgie nicht optimal und wünschenswert.

Abseits der Probleme mit den Überkapazitäten – in den Altgeräten werden seit Jahren immer weniger Edelmetalle verbaut. Wie stark sind die Gehalte beispielsweise für Gold, Silber und Palladium in der Zwischenzeit gesunken?

VKU
VKU

Wir haben durch Analysen einen Überblick über das Material eines Kunden erstellt, der bis 2003 zurückreicht. Im Vergleich zu 2003 sind diese Metallgehalte bis 2013 deutlich zurückgegangen. Besonders stark ist der Rückgang bei Palladium ausgefallen: Innerhalb von zehn Jahren ist der Palladium-Gehalt fast um zwei Drittel abgestürzt. Gold und Silber sind um gut 40 Prozent weniger im Material enthalten. In weiteren Studien haben wir unter anderem herausgefunden, dass in Mobiltelefonen ab 2002 wesentlich weniger Palladium verbaut wurde.

Wie hat sich diese Entwicklung auf den Materialwert der Altgeräte ausgewirkt?

In den Jahren von 2003 bis 2010 sind zwar die Edelmetallgehalte gesunken. Das Material hat jedoch im Großen und Ganzen an Wert gewonnen, denn die Metallpreise sind im selben Zeitraum überproportional gestiegen.

Und das war die „The Sky is the Limit“-Periode?

Genau. Sehr viele Betriebe, die in dieser Zeit ins E-Schrott-Recycling investiert haben, haben gedacht, dass es nur eine Richtung gibt – immer höher und höher. Ab 2011 sind die Metallpreise spürbar gefallen. Der sinkende Metallgehalt, plus niedrigere Preise hat letztendlich dazu geführt, dass auch der Materialwert abgestürzt ist. Allerdings muss dabei auch gesagt werden, dass der Gesamtmaterialwert des E-Schrotts 2013 immerhin noch um circa 50 Prozent über dem Wert aus 2003 lag.

Wie werden sich die Metallgehalte sich Ihrer Einschätzung nach weiter entwickeln?

Wir gehen davon aus, dass der Palladium-Gehalt in Altgeräten in den kommenden Jahren bis 2020 noch weiter sinken wird. Sehr wahrscheinlich findet auch bei Gold und Silber dieselbe Entwicklung statt. Das hat damit zu tun, dass im Altgerätemix der Anteil an Produkten aus der Zeit, in der noch mehr Edelmetall benutzt wurde, immer kleiner werden wird.

Welche Rolle spielt die zunehmende Zahl an Billigprodukten für den Metallgehalt im E-Schrott?

Eine relativ große. Bis vor drei, vier Jahren hatte man im Großen und Ganzen nur Geräte von Markenherstellern wie Nokia, Samsung, Apple oder LG. Mittlerweile gibt es gerade im Smartphone-Bereich viele Billighersteller. Wir vermuten, dass deren Geräte generell ärmer an Edelmetallen sind. Das wird voraussichtlich die Durchschnittsqualität der Geräte, die in Zukunft dem Recycling zur Verfügung stehen, negativ beeinflussen und die durchschnittlichen Metallgehalte weiter reduzieren.

Glaubt man einem Vertreter des US-Konzerns Hewlett-Packard, wird es in zehn bis 15 Jahren im Hightech-IT-Equipment möglicherweise nur noch zwei Materialien geben: Kunststoffe und Glasfasern, aber keine Metalle mehr.

So futurisch möchte ich nicht denken.

Aber sollte man die Warnung nicht ernst nehmen?

Ich kann mir als Nichttechniker schon vorstellen, dass das, was er sagt, in zehn Jahren auch Wirklichkeit sein könnte. Aber nicht so extrem. Das wird nicht zu 100 Prozent auf die Geräte zutreffen, die dann verkauft werden. Das Material, das in zehn, 15 Jahren zur Verfügung stehen wird, entspricht aber ungefähr dem, was heute als Neugeräte vorliegt. Das wird teilweise noch an die gute, alte Qualität heranreichen. Aber ich stimme mit ihm darin überein, dass Unternehmen nicht nur die Vergangenheit und die heutige Realität im Auge haben sollten, bevor sie Investitionen ins Recycling von E-Schrott tätigen. Sondern vor allem: Was wird in der Zukunft zur Verfügung stehen. Wenn man davon ausgeht, dass die Altgeräte der Zukunft mit denen vergleichbar sind, die derzeit als Altgeräte in die Recyclingkette kommen, dass Computer-Motherboards auch künftig noch immer 175 oder 200 Gramm Gold pro Tonne enthalten, dann geht man von falschen Voraussetzungen aus. Dann baut man womöglich Recyclingkapazitäten auf, die völlig unflexibel sind und Qualitäten erzeugen werden, die eigentlich keiner haben möchte. Und das womöglich zu so hohen Kosten, die vom Wert der Materialien nicht getragen werden.

Gibt es eine Zukunft fürs E-Schrott-Recycling?

Ganz klar. Es gibt eine Zukunft. Schon allein aus Gründen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes muss für eine fachgerechte Entsorgung und Recycling von Elektronikschrott gesorgt werden. Aber auch wirtschaftlich gesehen gibt es eine Zukunft. Allerdings wird die Zukunft nicht so schön aussehen, wie es sich sehr viele Leute ausgemalt haben.

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