Interview

Der Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrates, Walter Eichendorf, über neue Abbiegesysteme für Lkw, ihre Serienreife und darüber, was Unternehmen machen können, um das Unfallrisiko durch rechtsabbiegende Lkw zu verringern.

„Es wird noch jahrelang schwere und tödliche Unfälle geben“


Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) wurde 1969 gegründet. Aufgabe des Vereins ist die Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer. Schwerpunkte sind Fragen des menschlichen Verhaltens, der Fahrzeugtechnik, der Infrastruktur, des Verkehrsrechts, der Verkehrsüberwachung und der Verkehrsmedizin.

Seit Oktober 2007 legt der DVR die Strategie Vision Zero seiner Verkehrssicherheitsarbeit zugrunde. Die Strategie basiert auf vier zentralen Grundannahmen:

1) Menschen machen Fehler
2) Die physische Belastbarkeit des Menschen ist begrenzt
3) Das Leben ist nicht verhandelbar
4) Die Menschen haben ein Recht auf ein sicheres Verkehrssystem und eine sichere Arbeitswelt

Seit 2014 fordert der DVR, dass die Industrie die Entwicklung von Abbiegeassistenten mit höchster Priorität vorantreibt. Präsident des DVR ist Dr. Walter Eichendorf. Er ist zugleich stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).

Herr Eichendorf, inzwischen gibt es verschiedene Systeme, die dabei helfen sollen, Abbiegeunfälle zu vermeiden. Wie funktionieren sie und welche sind serienreif?

DVR
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Die Industrie hat Abbiegeassistenzsysteme entwickelt und geprüft. Sie nutzen Radar, Ultraschall, Kameras oder Kombinationen dieser Systeme. Dazu ist umfangreiche Software zur sicheren Bilderkennung notwendig, die vor allem auch Fehlwarnungen vermeidet. Für die Erstausrüstung bietet bisher nur ein deutscher Lkw-Hersteller ein sehr gutes System an. Schon jetzt bestellen mehr als 30 Prozent seiner Kunden diesen radarbasierten Abbiegeassistenten.

Inwieweit eignen sich die Systeme auch für die Nachrüstung?

Die angebotenen Nachrüstsysteme sind leider nur für Fahrzeuge mit festem Aufbau geeignet. Das bedeutet: Lkw mit Wechselauflieger oder Anhänger, Planen-Lkw etc. müssen jeweils einzeln ausgestattet und kalibriert werden. Für manche Fuhrparks ist das kein Hindernis, für andere mit stark wechselnden Anforderungen schon. Deshalb fordert der DVR von allen Lkw-Herstellern die zügige Entwicklung für den serienmäßigen Einsatz und die Nachrüstung von Abbiegeassistenzsystemen.

Aber alle Systeme sind nur warnend, sie greifen also noch nicht mit einer automatischen Notbremsung aktiv ein?

Ja, die Systeme können in einer ersten Entwicklungsstufe zunächst nur mit informierenden und warnenden Funktionen ausgestattet sein. Später sollen die Systeme auch eine Notbremsung einleiten können. Daran müssen Hersteller und Zulieferer mit Hochdruck arbeiten. Unternehmen sind auch in der Pflicht.

Welche Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um das Unfallrisiko durch rechtsabbiegende Lkw und Nutzfahrzeuge zu verringern?

Etliche Betriebe rüsten derzeit ihren Fuhrpark freiwillig nach. Daneben können Unternehmen aber auch intern wirken – mit Schulungen, Aufklärung und vorbildlicher Präventionskultur bis in die Chefetagen. Die gesetzliche Unfallversicherung ist hier sehr aktiv. Konkrete Unterstützung gibt es von den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Die BG Verkehr bietet z. B. für Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer Trainings mit Planen an, damit die Spiegel optimal eingestellt werden. Um Speditionen und andere Lkw-Fuhrparks auch finanziell zu motivieren, ist ein Förderprogramm des Bundes ab Anfang 2019 angekündigt, das finanzielle Anreize schafft, die Flotten freiwillig mit Abbiegeassistenten nachzurüsten.

Am 10. Juli 2018 hat Bundesverkehrsminister Scheuer die „Aktion Abbiegeassistent“ gestartet. Kommt jetzt der bundesweite Durchbruch?

Das ist eine sehr gute Initiative und viele Firmen, zum Beispiel große Handelsunternehmen, haben eine flächendeckende Aus- und Nachrüstung verbindlich zugesagt. Dennoch: Der Lkw-Verkehr rollt von Warschau nach Lissabon und von Kiel nach Brindisi. Es bedarf verbindlicher Regelungen auf EU-Ebene. Am 17. Mai 2018 hat Brüssel das Dritte Mobilitätspaket veröffentlicht. Es sieht unter anderem den verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenzsystemen mit Warnfunktion für Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen vor, allerdings nur für neue Modelle ab 2022 und alle Neufahrzeuge erst ab 2024. Der DVR unterstützt Bundesminister Scheuer bei seinen Aktivitäten, dies auf EU-Ebene deutlich vorzuziehen. Mit anderen Worten: Es wird noch jahrelang viele schwere und tödliche Unfälle geben, bis Abbiegeassistenzsysteme den Verkehr EU-weit sicherer machen.

Warum verhält sich Brüssel so zögerlich?

Die Vorstellungen über notwendige technische Standards von Lkw sind in den verschiedenen EU-Ländern unterschiedlich, die finanziellen Mittel der Firmen, Speditionen oder Lieferdienste ebenfalls. An EU-weit geltenden Regelungen sind Akteure aller EU-Mitgliedstaaten beteiligt. Man kann sich gut vorstellen, wie herausfordernd eine schnelle Einigung ist. Bis dahin sollten Speditionen und andere Firmen in möglichst vielen EU-Staaten einen finanziellen Anreiz durch eine Förderung der Erstausrüstung oder der Nachrüstung von Abbiegeassistenzsystemen erhalten. Derartige Anreizsysteme sind in der Prävention sehr wirksam.

 

© 320° | 02.08.2018

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