Interview

Das chemische Recycling kann viel zu einer besseren Kreislaufwirtschaft beitragen, meint Norbert Nießner, Entwicklungschef von Ineos Styrolution. Im Interview erklärt er, für welche Kunststoffe das Verfahren geeignet ist - und wie er es unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten einschätzt.

„Wir müssen uns mit High-Tech-Kunststoffen abfinden“


Dr. Norbert Nießner ist Entwicklungschef (Leiter Global R&D und Intellectual Property) beim Kunststoffhersteller Ineos Styrolution, einer hundertprozentigen Tochter des Chemiekonzerns Ineos. Der Chemiker ist Erfinder und Miterfinder einer Reihe wichtiger Styrolpolymer-Technologien und -Produkte. Er hat mehr als 300 wissenschaftliche Arbeiten, Buchkapitel und Patente/Anmeldungen veröffentlicht.

Nießner ist außerdem Mitglied in der American Chemical Society und in der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Darüber hinaus leitet er die erste Working Group bei SCS (Styrenics Circular Solution) zum Thema Chemical Recycling.

Herr Nießner, was ist wichtiger: Ein Kunststoff, der alle Funktionen und Eigenschaften hat, die sich der Verbraucher wünscht, oder ein Kunststoff, der stofflich verwertbar ist?

Ineos

Aus meiner Sicht ist beides wichtig. Aber wenn heute über die Recyclingfähigkeit von Kunststoffen gesprochen wird, dürfen wir nicht vergessen, dass Kunststoffverpackungen in gewisser Weise High-Tech-Systeme sind. Das sind teilweise Verbundsysteme mit 10 bis 12 verschiedenen Schichten mit Barrieren gegen Wasser und Sauerstoff. Solche verschiedene Polymere werden Sie nicht mit Sortiertechnologien trennen können, auch wenn sie noch so ausgefallen sind. Da wird immer ein Verbund bleiben.

Dennoch stellt sich die Frage, ob man in jedem Fall ein Verbundsystem für Verpackungen benötigt.

Ja, die Frage ist auch berechtigt, und dennoch muss man beachten, dass viele dieser Kunststoffsysteme über Jahrzehnte optimiert wurden. Diese Systeme ermöglichen unseren modernen, CO2-reduzierten Lebensstil. Wenn wir sie jetzt ändern wollen, um sie für das mechanische Recycling tauglich zu machen, dann würden die Verpackungen viel dicker und weniger effizient werden. Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, dass hier optimierte Systeme geschaffen worden sind und wir müssen nun Recyclingtechnologien entwickeln, die in der Lage sind, solche Systeme zu bearbeiten.

Sie meinen das chemische Recycling?

Ja, genau. Mit dem chemischen Recycling können wir sicherstellen, dass für jene Kunststoffrecyclate, für die eine hohe Qualität erforderlich ist, auch die richtige Recyclingtechnologie angewendet wird. Von daher setzen wir uns dafür ein, dass es andere Recyclingtechnologien jenseits des mechanischen Recyclings geben wird.

Man könnte das chemische Recycling auch als Versuch der Chemieindustrie verstehen, sich aus der Verantwortung zu entziehen, stofflich verwertbare Kunststoffe herzustellen.

Das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Wir können heute schon sagen, dass unsere Kunststoffe recyclingfähig sind. Man kann alle unsere Kunststoffe nochmal aufschmelzen und dann zumindest stofflich verwerten. Wenn wir aber nur auf die stoffliche Verwertung abzielen würden, würden wir zu kurz springen, weil wir die Wünsche der Kunden außer Acht ließen. Das chemische Recycling bietet hier eine Lösung für komplexe Kunststoffe.

Ihr Unternehmen experimentiert bereits mit dem chemischen Recycling. Vor kurzem haben Sie Polystyrolabfälle chemisch recycelt und aus dem depolymerisierten Material ein neues Polystyrol hergestellt. Sie haben das als Durchbruch und praktischen Beweis für die Recyclingfähigkeit von Polystyrol bezeichnet. Für welche Produkte ließe sich das recycelte Polystyrol verwenden?

In erster Linie für Lebensmittelverpackungen und Anwendungen im Medizin-Bereich. Polystyrol ist ein Polymer, das sich besonders gut zum chemischen Recycling eignet. Das liegt an seiner guten Zersetzungstemperatur. Mit Polystyrol kann man ein echtes Recycling machen, indem man es in Styrol spaltet. Das Styrol wiederum kann man wieder separieren, aufreinigen und polymerisieren, das heißt, hier findet ein echtes Recycling statt, und kein Downcycling. Damit bekommt man die Qualität von Originalpolymeren.

Welche Anforderungen stellt das Verfahren an den Inputstoff?

Die Kunststoffe sollten in jedem Fall frei sein von störenden Verbindungen wie etwa Halogen. Welche Anforderungen darüber hinaus erfüllt sein müssen, erarbeiten wir derzeit in unserem globalen Projektteam. Ziel ist es, damit einen stabilen Prozess auf kommerzieller Ebene zu generieren.

Für die Recyclingwirtschaft ist das chemische Recycling insbesondere mit Blick auf Mischkunststoffe interessant, da diese sich zum Teil nur schwer stofflich verwerten lassen. Inwieweit kann das chemische Recycling hier helfen?

Ineos

Technisch ist das chemische Recycling auch beispielsweise von PE und PP ohne weiteres möglich. Auch PET Kunststoffe kann man aufspalten in kleinere Bausteine. Aber man muss darauf achten, welche Verunreinigungen in den Kunststoffen enthalten sind, wie beispielsweise Halogen aus dem PVC. Die Verunreinigungen muss man verfahrenstechnisch rausbekommen. Gegebenenfalls braucht man dann noch eine Nachbehandlung, um sie dann in neue Produkte zu überführen, die man dann weiterverarbeiten kann. Bei den Polyolefinen wäre man also beispielsweise auf einen Steamcracker angewiesen, bei Polystyrol dagegen ist das Produkt des chemischen Recyclings – das Styrol – von der Wertschöpfungsseite her bereits viel näher am Polymer, was den Schritt via Steamcracker nicht nötig macht. Und man muss darauf achten, dass man den Steamcracker so füttert, dass keine Verunreinigungen enthalten sind.

Also eine machbare Sache?

Ja, machbar ist das. Das chemische Recycling ist nach meiner Überzeugung der Schlüssel für die Lösung des Entsorgungsproblems für Mischkunststoffe. Darüber hinaus beschäftigt man sich intensiv mit einer weiteren Variante, der Vergasung von Kunststoffen bei noch höheren Temperaturen als bei der De-Polymerisation. Mit einer Vergasung, also quasi mit dem Dampfhammer, lassen sich eigentlich alle Kunststoffe klein spalten, egal ob es um gemischte oder reine Kunststoffe geht. Man spaltet die komplexen organischen Verbindungen auf in einfache Bausteine, die man der Chemieindustrie wieder zur Verfügung stellt, die daraus dann ihre Produkte herstellen kann, wie beispielsweise Alkohol oder Monomere. Das Verfahren ist anpassbar an höchst unterschiedliche Stoffe.

Was halten Sie von der Solvolyse, die unter anderem das Fraunhofer Institut IVV im sogenannten Creasolv-Verfahren anwendet?

Den Entwicklern ist es offenbar gelungen, durch spezielle Lösemittelkombinationen Kunststoffe aus gemischten Abfällen zu extrahieren und diese wieder aufgereinigt als Kunststoffe auszufällen. Das soll mit ganz unterschiedlichen Kunststoffen funktionieren. Bislang ist es die Solvolyse wohl noch nicht für alle Food- und Medical-Anwendungen geeignet, so dass man die weitere Entwicklung des Verfahrens abwarten muss. Dennoch halte ich die Solvolyse für eine interessante und wichtige Technologie. Man muss eines beachten, vor allem, wenn es Verbunde geht: Man wird mithilfe der Solvolyse bestimmte Schichten herauslösen können aus dem Verbund. Aber man hat dann immer noch eine Restmischung. Ob die Solvolyse hierfür auch das richtige Verfahren ist, ist noch unklar. Das Problem bleibt also, was man mit gemischten Kunststoffabfällen macht. Dann kommen wir wieder zu den Hochtemperaturmethoden, wie die Vergasung und die Depolymerisation.

Das heißt, jedes Verfahren hat seine Berechtigung?

Ja, was wir sehen, ist ganz klar: Not one size fits all. Wir sehen eine Koexistenz verschiedener Recyclingverfahren und bei allen Verfahren einen klaren Trend nach vorne. Je nach Anwendung gibt es eine oder mehrere Technologien, die am effizientesten sind. In manchen Fällen ist auch ein mechanisches Recycling sehr gut geeignet, auch mit Blick auf den CO2-Footprint, weil man das Material nicht erhitzen muss. Doch um hochwertige Kunststoffe herzustellen, braucht man zuvor eine gute Sortierung und gut funktionierende technische Verfahren. Sortierung ist ein entscheidender Schlüssel für das Recycling, funktioniert wie gesagt aber noch nicht für Mehrschicht-Verbunde. Außerdem ist dieser Schritt noch aufwändig, so dass man dann sehen muss, ob sich das Ganze rechnet. Bei Mischkunststoffen stößt man da schnell an die Grenzen. Da kann es eigentlich nur ein Downcycling geben.

Können Sie bereits sagen, bei welchen Kunststoffen der ökobilanzielle Vergleich zwischen chemischen und mechanischem Recycling zugunsten des chemischen Recyclings ausfällt?

Noch haben wir darauf keine Antwort, weil wir hier noch am Anfang stehen. Für unsere Firma steht der ökobilanzielle Vergleich ganz oben auf der Agenda. Wir haben den Vergleich ansatzweise begonnen, aber wir verfügen hier noch nicht über harte Fakten. Es sieht gut aus, aber wir können hierzu noch nichts Konkretes sagen.

Auch wenn Sie dem chemischen Recycling die technische Machbarkeit attestieren: Es fehlt bis heute der Nachweis, dass das chemische Recycling im industriellen Maßstab funktioniert und vor allem, dass der Prozess auch betriebswirtschaftlich darstellbar ist. Wie bewerten Sie die Chancen, dass die Verfahren eines Tages wirtschaftlich betrieben werden können?

Das ist eine berechtigte Frage. Die Frage kann erst dann beantwortet werden, wenn wir solche Anlagen in Betrieb haben. Noch ist es zu früh, um eindeutige Daten zur Wirtschaftlichkeit zu haben. Aber eines ist klar: Das Ziel muss es selbstverständlich sein, das Ganze wirtschaftlich zu betreiben. So, wie wir es heute sehen, ist die Chance dafür absolut da. Der Nachweis ist noch nicht erfolgt, das ist richtig, aber die bisherigen Kalkulationen stimmen durchaus optimistisch.

 

© 320° | 13.05.2019

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